„Gründliche Anleitung zu nützlichen Wissenschaften“ – Bildungseinrichtungen und Wissenschaftszirkel der Aufklärung

„Gründliche Anleitung zu nützlichen Wissenschaften“ – Bildungseinrichtungen und Wissenschaftszirkel der Aufklärung

Organisatoren
Ehrenfried Walther von Tschirnhaus Gesellschaft e.V.; Mathematisch-Physikalischer Salon der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.10.2008 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Sibylle Gluch, Mathematisch-Physikalischer Salon, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Anlässlich des 300. Todestages des sächsischen Universalgelehrten Ehrenfried Walther von Tschirnhaus am 11. Okober 2008 lud die Ehrenfried Walther von Tschirnhaus Gesellschaft e.V., in Zusammenarbeit mit dem Mathematisch-Physikalischen Salon der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, zu einem öffentlichen Kolloquium, in dessen Mittelpunkt der Bildungs- und Wissenschaftstheoretiker Tschirnhaus stand. In vier Vorträgen wurde das bildungs- und wissenschaftshistorische Umfeld Tschirnhaus’, von Akademien und Akademievorhaben über Schulen bis hin zu privaten Wissenschaftszirkeln, erörtert, während die abschließende Podiumsdiskussion Tschirnhaus’ Ideen und Vorstellungen in dieses Umfeld einband.

Die Reihe der Vorträge wurde von STEFAN SIEMER (Stiftung Ruhr Museum Essen) eröffnet, der zur Londoner Royal Society und zur Pariser Académie des sciences vortrug. Siemer betonte, dass mit den Akademien neue Möglichkeiten der Vernetzung von Gelehrten, neue Orte für Forschung und Experiment geschaffen wurden. Dennoch unterschieden sich die Londoner und die Pariser Akademie fundamental. Handelte es sich bei der Royal Society um einen freien Zusammenschluss von Gelehrten in einer demokratisch geprägten Kultur, so war die Pariser Académie eine Paradeorganisation des französischen Absolutismus, die in ihrer personellen Struktur wie auch in ihren Zielen eng an den französischen Staat gebunden war. Tschirnhaus, der sowohl London als auch Paris besucht und zu den dortigen Gelehrten Kontakte geknüpft hatte, bewarb sich gleichwohl nur um eine Aufnahme in die Académie des sciences. Für diese Entscheidung führte Siemer drei wesentliche Gründe an. Zum einen erhielten die Mitglieder der Académie des sciences eine feste Besoldung, die dem ewig mit Geldsorgen belasteten Tschirnhaus mehr als gelegen gekommen wäre. Desweiteren boten Räumlichkeiten und Ausstattung der Pariser Akademie hervorragende Möglichkeiten auf dem Gebiet der material- und kostenintensiven Experimentalwissenschaften, zu denen auch Tschirnhaus’ Versuche mit Brennspiegeln und Linsen zu rechnen sind. Schließlich konnte Tschirnhaus in den Statuten der Pariser Akademie einen Gedanken wiederfinden, der in seinen eigenen Schriften zentral ist: den der Nützlichkeit der Wissenschaften.

Der Begriff der utilitas prägte auch die Akademie- bzw. Sozietätsvorstellungen Gottfried Wilhelm Leibniz’, über die EBERHARD KNOBLOCH (Technische Universität Berlin) im Anschluss referierte. Leibniz begriff Akademien als Ideenmodelle für den Staatsaufbau. Ausgehend von der Machbarkeit der sozialen Welt sollten sie philosophische Theorie mit politischer Praxis verbinden, eine grundsätzliche Stätte der Geistesbildung und Tugendpflege sein. Leibniz, der auf die Machtergreifung der Vernunft, auf Wohlstand durch Bildung hoffte, dachte sich die Sozietät als eine Wissenschafts-, Wirtschafts- und Kulturbehörde mit weitreichenden Vollmachten, die zudem soziale und universale Aspekte aufgriff. Seine ab 1671 verstärkt verfassten Denkschriften zur Gründung einer Sozietät bzw. Akademie sind jedoch nicht durch utopische Züge, sondern durch Realitätsnähe und die Betonung der Nützlichkeit von Wissenschaft und Forschung gekennzeichnet. Im Gegensatz zu Campanella, Morus und Bacon entwickelte Leibniz ein dezidiertes Konzept der Realisierbarkeit, dessen ethische Richtschnur ein grundsätzlicher Pragmatismus war. Das hohe Ziel der Leibnizschen Akademie- und Sozietätspläne lag dennoch in nichts weniger als der Errichtung einer neuen Sozialordnung und damit der Verwirklichung einer bestmöglichen Welt.

August Hermann Francke ging es hingegen um die Verwirklichung der göttlichen Vorsehung, die in jedem einzelnen Menschen durch eine entsprechende Ausbildung zur Entfaltung gebracht werden könnte. Wie KELLY WHITMER (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin) anschließend darlegte, waren Franckes pädagogische Anstalten auf vielfältige Weise mit Tschirnhaus verbunden. Auf Franckes Anfrage von 1698 schrieb Tschirnhaus einen komprimierten Abriss seiner Medicina mentis, dem er den Titel Gründtliche Anleitung zu nützlichen Wissenschaften gab. Die hier niedergelegten Vorstellungen zu Lehrinhalten und -methodik fanden ihre direkte Umsetzung in Franckes Bildungs- und Erziehungsanstalten, die eine Vielzahl höherer und niederer Schulen für Kinder aller sozialen Schichten umfasste. Die nützlichen, das heißt praktischen bzw. mathematischen Wissenschaften wie zum Beispiel Optik, Messkunst, Mechanik und Baukunst spielten in allen Schulstufen eine entscheidende Rolle, denn nach Tschirnhaus sollte ihre Ausübung Freude am Lernen erwecken sowie die Schärfung des Verstandes und der Sinne erreichen: mittels der nützlichen Wissenschaften wurden Herz, sinnliche Erfahrung und Intellekt versöhnt. Franckes Pädagogik verstand eine solche umfassende Bildung und Erziehung der Schüler als Weg zu „Weisheit und Gemütsruhe“ und der Erfüllung einer göttlichen Intention, die jedem Kind einen bestimmten, seinen individuellen Talenten entsprechenden Platz in der menschlichen Gemeinschaft zuwies.

Schulen, Universitäten, Akademien und Sozietäten waren jedoch keineswegs die ausschließlichen Orte der Wissensproduktion, wie OLIVER HOCHADEL (Universität Autònoma de Barcelona) am Beispiel reisender Schausteller zeigte. Diese sogenannten „Elektrisierer“, die vor einem interessierten Publikum elektrische Versuche durchführten, traten an Höfen, auf Messen, in Theatern und Wirtshäusern, seltener auch in Universitäten und Akademien auf. Daneben verkauften und reparierten sie die zu den Versuchen notwendigen Instrumente, brachten Blitzableiter an, verabreichten elektrische Kuren und erteilten Unterricht in der Naturkunde. Ihre Aktivitäten bewegten sich somit im Grenzbereich zwischen Pädagogik und Unterhaltung. Universitätsprofessoren, die spektakuläre Versuche ebenso öffentlich vorführten und private Schausteller traten hierbei als Konkurrenten um ein zahlendes Publikum und im Hinblick auf die Autorität in der Wissensproduktion auf. Die Frage der Interpretationsmacht beschränkte sich dabei keineswegs auf theoretische Bereiche, sondern reichte bis in praktische Belange hinein. Zum Beispiel sicherten sich die Universitäten das letzte Wort bei der Diskussion um die fachgerechte Montage der Blitzableiter. Die Art und Weise der Ausübung von Wissenschaft brachte wiederum eine spezifische Öffentlichkeit hervor. Kennzeichnend für die Wissenschaftsgeschichte der Naturkunde der Aufklärung ist ihre Praxisferne, die jedoch durch die utilitas - Rhethorik der Aufklärer regelrecht übertüncht wurde. Die Akzeptanz dieses Nützlichkeitstopos durch ein breites Publikum bedingte wiederum die Professionalisierung und Institutionalisierung der Naturwissenschaften.

In der abschließenden Podiumsdiskussion betonte MATHIAS ULLMANN (Ehrenfried Walther von Tschirnhaus-Gesellschaft) Tschirnhaus’ großes Engagement auf pädagogischem und wissenschaftsorganisatorischem Gebiet. Tschirnhaus pädagogische Ideen begannen bei Kindern, denen er eine umfassende Erziehung vor allem auch in den Naturwissenschaften zukommen lassen wollte. Sein Konzept bedachte jedoch nicht nur den Geist, sondern schloss auch die körperliche Gesundheit der Kinder mit ein. Herrmann August Francke lehnte sich bei der Organisation seiner Schulen eng an Tschirnhaus’ Vorstellungen an. Ebenso enge Parallelen sind zwischen Tschirnhaus’ und Leibniz’ Akademie- und Sozietätsideen zu ziehen, in deren Mittelpunkt die Nützlichkeit der Wissenschaften zum Wohle der Allgemeinheit steht. Nicht zuletzt treffen sich Tschirnhaus und Leibniz in dem Versuch, den Naturwissenschaften einen prominenteren Platz im öffentlichen Raum zu verschaffen.

Kurzübersicht:

Begrüßung: Peter Plaßmeyer (Mathematisch-Physikalischer Salon, Dresden, E. W. v. Tschirnhaus-Gesellschaft)

Stefan Siemer (Stiftung Ruhr Museum Essen): Die Akademien in London und Paris

Eberhard Knobloch (TU Berlin): Leibniz und die Brandenburgische Sozietät der Wissenschaften

Kelly Whitmer (MPI für Wissenschaftsgeschichte Berlin): Die nützlichen Wissenschaften, das Auge und das Herz in den Schulen der Franckeschen Stiftungen

Oliver Hochadel (Universitat Autònoma de Barcelona): Die Außerakademischen. Elektrisierende Schausteller in der deutschen Aufklärung

Podiumsdiskussion: Tschirnhaus im Netz von Bildungseinrichtungen und Wissenschaftszirkeln
Teilnehmer: die Referenten, Mathias Ullmann (E. W. v. Tschirnhaus-Gesellschaft)
Leitung: Peter Plaßmeyer


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